4 Die geistliche Entwicklung


"Unser ganzes Geschäft in diesem Leben ist die Wiederherstellung der Gesundheit des Herzensauges, mit dem wir Gott sehen konnten." Augustinus, Kirchenlehrer (354 - 430)

Der Mensch ist mit einem großen, übergreifenden Ziel auf die Erde gekommen: Selbstverwirklichung. C.G. Jung

4.1 Der Geist wie eine Entwicklungsmöglichkeit
Sie können sich des Sie hemmenden Anfangszustandes bewußt werden. Dadurch kann in Ihnen eine heilige Unruhe hervorgerufen werden, durch die Sie anfangen, nach einem Einblick in sich selber und nach Befreiung Ihrer selbst aus diesem bremsenden, Unglück und Unfrieden herbeiführenden Zustand streben zu wollen. Um das zu erlangen, müssen Sie lernen, Ihre Fähigkeiten bewußt und beherrscht zu benutzen, durch die Sie immer mehr sich selber und Ihre ursprüngliche, geistliche Natur verwirklichen.
Der Sinn dieses Sie hemmenden Anfangszustandes ist es daher, daß er es Ihnen ermöglicht, sich aus ihm zu befreien, indem Sie sich selber in die Hand nehmen. Durch die Arbeit an Ihrer Persönlichkeit können Sie Ihre geistliche Selbständigkeit verwirklichen - den Zweck der Bildungsstätte, welche dieses zeitliche Dasein für uns darstellt.
Als der menschliche Geist fangen Sie dieses Dasein nicht nur in jenem Zustand der Unbewußtheit Ihrer selbst an, sondern ebenfalls als eine Möglichkeit, sich zu entwickeln. Sie verfügen ja wie gesagt über eine geistliche Gestaltungskraft, mit der Ihr Vermögen zu lernen verbunden ist. Durch diese Lernfähigkeit sind Sie nicht nur erziehbar, sondern auch dazu imstande, sich selber zu erziehen, indem Sie Ihre geistlichen Fähigkeiten entwickeln und auf diese Weise Ihre Persönlichkeit herausbilden.

"Wer mit dem Leven spielt,
kommt nie zurecht,
Wer nicht sich selbst befielt,
bleibt immer Knecht."
Johann Wolfgang von Goethe,
Philosoph, Dichter (1749 - 1832)


Henri Boelaars OSB - Die Begegnung
St. Willibrordsabtei, de Slangenburg,
Doetinchem, Niederlande
4.2 Die Entwicklung der Fähigkeiten
Wie können die geistlichen Fähigkeiten und damit die Persönlichkeit entwickelt werden? Die geistlichen Fähigkeiten lassen sich nur im persönlichen Umgang mit Ihren Mitmenschen im tagtäglichen Dasein entwickeln. Sie können nur im lebendigen Verkehr mit Ihrem Nächsten zum Menschen werden.

Das Vermögen des Wahrnehmens entwickeln Sie dadurch, daß Sie sich bewußt für Ihre täglichen Erfahrungen aufschließen und aufmerksam darauf hören, was andere zu Ihnen sagen.
Das Denken entwickeln Sie dadurch, daß Sie versuchen, die Bedeutung jener Erfahrungen zu verstehen, indem Sie diese rationell analysieren und durch die Vernunft mit Ihren sonstigen Erfahrungen verbinden, so daß Sie an Verständnis gewinnen.
Das Fühlen entwickeln Sie dadurch, daß Sie bewußt Ihren Erfahrungen gegenüber eine offene Gefühlshaltung einnehmen, wodurch man Sie persönlich berühren kann und Sie anfangen, mit Ihren Mitmenschen und Mitgeschöpfen, mit Pflanzen und Tieren, mitzufühlen, mitzuleiden und sich mit zu erfreuen.
Die Entwicklung des Wollens stellt eine übung der Selbstbeherrschung und Geduld dar. Dabei handelt es sich darum, sich seiner selbst als der bewußten, vermögenden Lebenskraft Herr zu werden und nach außen hin vernünftige und sittliche Beschlüsse festentschlossen zu erledigen.

4.3 Durch Selbsterlebung zum Selbsterkenntnis
Wenn Sie Ihre Fähigkeiten entwickeln indem Sie lernen, diese soviel wie möglich bewußt und beherrscht zu benutzen, so bilden Sie Ihr Vermögen des Wahrnehmens zum Schönheitssinn, zum Sinn für Ordnung und Reinlichkeit heraus; dann kennzeichnet sich Ihr Denken durch Weisheit und das Streben nach Wahrheit, Ihr Fühlen durch Liebe und Güte und Ihr Wollen durch Kraft und Ausdauer.
Durch die Entwicklung Ihrer Fähigkeiten fangen Sie an, immer bewußter von sich als dem Geist aus zu leben, denn, indem Sie die Tätigkeit Ihrer Fähigkeiten im Innern Ihrer selbst erfahren, gelangen Sie ja zum Selbsterleben, und dadurch zum Selbsterkenntnis, zu Selbstkenntnissen, zum Wissen Ihrer selbst als des ganz aus sich heraus tätigen Geistes.

"Wer schaut nach draußen, 'träumt',
Wer sich nach innen wendet, 'wacht auf'." C.G. Jung

4.4 Das Gewissen und die Tugenden
Durch den beherrschten Gebrauch, den Sie von Ihren Fähigkeiten zu machen angefangen haben, haben Sie überdies eine spezifische Eigenschaft derselben entwickelt. Nämlich die Möglichkeit, diese durch innere Sammlung auf Sie selbst zu richten und sich auf diese Weise einen Spiegel vorzuhalten. Es ist die Möglichkeit, mit Hilfe Ihrer eigenen Fähigkeiten Ihre eigene geistliche Tätigkeit selber wahrzunehmen, den Wert Ihres eigenen Gedankenganges zu überdenken, den Wert Ihrer eigenen Gefühle nachzuempfinden und nötigenfalls Ihre eigene Willenskraft zu beherrschen.

Mit diesem Vermögen hängt Ihr Gewissen zusammen. Das Gewissen ist nämlich die Gesamtheit Ihrer eigenen Selbstbetrachtung, Ihrer vernünftigen und sittlichen Selbstbewertung und Selbstbeherrschung.
Im entwickelten Zustand bieten sich Ihre Fähigkeiten, wenn sie nach innen hin gewendet sind, als das Gewissen, wenn sie nach außen hin gewendet sind, als die Tugenden dar. Das Vermögen des Wahrnehmens kennzeichnet sich dann durch Aufmerksamkeit, das Denken durch das Verständnis, das Fühlen durch die Liebe und das Wollen durch die Geduld. Durch die Tugendhaftigkeit kennzeichnet sich aus Liebe Ihr Benehmen und somit Ihre Persönlichkeit in der Aufmerksamkeit, dem Verständnis und der Geduld, und kann dieses zu einem inniglichen Zusammenhang zwischen Ihnen und Ihren Mitmenschen führen.

4.5 Die Wiedervereinigung mit dem Allgeist
Durch die Selbstverwirklichung als die Entwicklung Ihrer Fähigkeiten zum Gewissen und zu den Tugenden nehmen in der geistlichen Welt Ihr eigenes geistliches Licht und dessen Wärme zu und dadurch kann Ihre Geistesverfassung mit der des Allgeistes in Einklang kommen. Selbstverwirklichung führt diese Geistesverfassung herbei, wodurch auch ein festes Band mit dem Allgeist entstehen kann und die Wiedervereinigung mit ihm möglich wird.
Selbstverwirklichung durch Selbsterziehung dadurch, daß man sich selber in die Hand nimmt, ist daher das Wesen der Geisteskunde; es ist der entscheidende Schritt auf Ihrem Lebensweg und es ist der Sinn der Bildungsstätte, welche uns dieses zeitliche Dasein ist.


zum 5. Teil: die geistliche Wiedervereinigung











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